„Die Pflegenden sehen uns in unserer nackten Existenz“

Pflegerinnen und Pfleger sind große Helfer in der Pandemie. Der Beruf lasse sich aber kaum auf menschenwürdige Weise ausüben, sagt die Pflegewissenschaftlerin Uta Gaidys.

Interview: Elisabeth von Thadden

Pflegewissenschaftlerin: „Die meisten wählen den Beruf, weil sie hilfsbedürftigen Menschen helfen wollen“, sagt Uta Gaidys über Pflegende.
„Die meisten wählen den Beruf, weil sie hilfsbedürftigen Menschen helfen wollen“, sagt Uta Gaidys über Pflegende.

Wir wollen die Virologen mit der Deutung der Lage nicht allein lassen. Deshalb fragen wir in der Serie „Worüber denken Sie gerade nach?“ führende Forscherinnen und Forscher der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, was sie in der Krise zu bedenken geben und worüber sie sich nun den Kopf zerbrechen. Die Fragen stellt Elisabeth von Thadden. Die Krankenschwester und Pflegewissenschaftlerin Uta Gaidys, 52, ist Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Seit dem 1. Februar 2021 gehört sie dem Wissenschaftsrat an.

ZEIT ONLINE: Worüber denken Sie gerade nach, Uta Gaidys?

Uta Gaidys: Ich denke über die Pflege unter Corona nach, über die Millionen Menschen in den Kliniken, den Heimen, zu Hause, über die Pflegenden und über die Pflegebedürftigen, denen sie beistehen. Gerade jetzt in der Pandemie merken wir, wie wir auf unseren Lebensalltag zurückgeworfen werden, wie Fragen nach einem Leben mit Infektionen, mit Krankheit, mit Verletzlichkeit unseren Alltag bestimmen. Und wir sind erschrocken, weil wir merken, dass wir verloren sind, wenn nicht genug Menschen da sind, die kompetent pflegen können. Es zeigt sich: Die Pflege ist ein hochkomplexer Beruf, der darin besteht, Menschen in existenziellen Situationen des Krankseins zur Seite zu stehen. Und zu wenige üben ihn aus.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit hochkomplex, und was bedeutet für Sie existenziell?

Gaidys: Von der fachlichen Seite der Pflege ist viel zu wenig die Rede, weil öffentlich das Bild der erschöpften Burn-out-Pflegerin dominiert. Das ist ärgerlich und folgenreich. Denn dieser Beruf erfordert ein anspruchsvolles Fachwissen. Nur Pflegende wissen, was Menschen in Atemnot erleben und wie sich die Angst und die Not lindern lassen. Nur sie wissen, was es bedeutet, wenn ein Mensch, dessen Körper in Kontrakturen, in Krämpfen versteift ist, sich nicht selbst im Bett drehen kann. Zum fachlichen Wissen kommt die Begegnung mit dem genuin Menschlichen: Die Pflegenden sehen uns in unserer nackten Existenz. Sie schauen den Menschen an. Sie sehen uns in unserer Würde. Sie halten sich da auf, wo viele wegschauen, weil wir uns wissend und stark fühlen wollen, wie es für unser modernes Menschenbild charakteristisch ist. Aber in der Corona-Krise merken wir: Diese Stärke täuscht, und sie geht mit einer fatalen Schwäche einher. Denn die meisten, die mit der Bekämpfung von Krankheit befasst sind, haben keine Energie für den Blick auf das Kranksein.

ZEIT ONLINE: Für die Bekämpfung der Krankheit haben aber alle erstaunlich viel Energie! Die ganze Welt ist rastlos mit Covid beschäftigt. Was ist der Unterschied zwischen Krankheit und Kranksein?

Gaidys: Die Krankheit ist Sache der Mediziner und Virologinnen, die in der Pandemie diagnostizieren, testen, impfen. Die herausfinden, welche Proteine die Lunge angreifen, und die sich um das physiologische Funktionieren eines Körpers kümmern. Sie stellen den Defekt fest und beheben ihn möglichst. Das Kranksein aber wirft andere Fragen auf: Wie kann ich einen kranken Menschen so unterstützen, dass er in seiner Atemnot ruhiger wird? Wie kann ich die Ausscheidungen eines Kranken regulieren? Wie kann ich einer demenzkranken Frau eine Orientierung geben, die ihr ermöglicht, angstlos mit der Pandemie umzugehen? An solchen Fragen entscheidet sich die Würde, und sie ist gefährdet. Schon lange vor Corona haben Pflegende klar gesagt, dass die Rahmenbedingungen ihres Berufs es kaum zulassen, ihn auf menschenwürdige Weise auszuüben.

ZEIT ONLINE: Der Rahmen, in dem Pflege stattfindet, ist so komplex wie der Beruf selbst. Was unterscheidet die Situation in den Kliniken von der in den Pflegeheimen?

Gaidys: Die Unterschiede sind in mancher Hinsicht gar nicht so groß. Denn auch in den Universitätskliniken, die für die akute Versorgung zuständig sind, befinden sich viele chronisch kranke, multi-morbide ältere Menschen unter den Patienten. Es stellen sich ähnliche Fragen wie in den Heimen. In den Kliniken aber ist die Personaldecke eine andere als in den Heimen, die Zahl der examinierten Pflegenden, die Fachkräftequote also, ist viel höher. In Altenheimen hingegen ist auf Grund des Personalmangels auch die Arbeit von ungelernten Hilfskräften erlaubt. Viele von ihnen lassen für diese Tätigkeit ihre eigenen Familien in den Herkunftsländern zurück, viele tun sich mit der deutschen Sprache noch schwer, was die Verständigung mit den schwerhörigen alten Menschen nicht eben erleichtert. Vor allem aber sind sie ohne eine Fachausbildung überfordert. Denn auch in Pflegeheimen leben heutzutage fast nur noch Menschen, die sehr gebrechlich sind und also kompetenter Pflege bedürfen. Es fehlt deshalb in Heimen oft an Gelassenheit, die für alle Beteiligten so nötig wäre.

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